Die Schublade, in die wir am besten passen, ist unsere eigene

Wie so oft, wenn ich mit Big zusammensitze und wir uns über Gott und die Welt unterhalten, habe ich mir gestern die Frage gestellt, was wir eigentlich sind. Denn egal wie ich es drehe und wende, ich komme jedes Mal an den Punkt, an dem ich feststelle, dass „Freunde“ für mich irgendwie nicht die Schublade ist, die unsere Beziehung definiert.
Ich weiß, dass sich allein schon beim Wort „Schublade“ viele entsetzt an den Kopf fassen, aber macht euch mal bewusst, wie sehr wir alle unser Leben in Kategorien einteilen ohne es zu merken. Und das aus gutem Grund. Denn wenn wir uns immer auf die Vielfalt konzentrieren würden, wäre unser Gehirn in einem Zustand ständiger Überforderung.


Ein Beispiel:
Familie: alle, mit denen wir verwandt sind, egal ob blutsverwandt, angeheiratet, adoptiert
Freunde: die, denen wir nahestehen
Bekannte: die, mit denen wir hin und wieder etwas unternehmen, mit denen wir aber keine engere Bindung haben


Logisch? Auf den ersten Blick vielleicht. Aber was ist, wenn du und deine beste Freundin gefühlt jeden Tag eures Lebens miteinander verbracht habt und ihr gegenseitig immer bei Familienfeiern dabei seid und ihre Mutter sich besser um dich kümmert als deine eigene es je getan hat? Ist es dann immer noch „nur“ Freundschaft oder schon sowas wie Familie?
Und was ist mit dem Ex, von dem ihr euch nur getrennt habt, weil ihr als Paar nicht funktioniert aber ansonsten hervorragend miteinander klar kommt. Ist der dann automatisch „nur“ ein Freund?

Big hat mir das Herz gebrochen. Mein theatralisches junges Ich würde hinzufügen: „Mehrfach“. Und das weiß er, denn ich habe es ihm gesagt. Auf der anderen Seite hat er aber auch eine bei mir „repariert“ was andere vor ihm kaputt gemacht haben. Auch das habe ich ihm gesagt. Beides war, aus heutiger Sicht betrachtet, in einem anderen Leben. Mittlerweile sind wir fast zwei Dekaden älter, reicher an Erfahrung und haben einen anderen Blick auf die Dinge. Dass er mir das Herz gebrochen hat ist, ebenso wie die Reparaturgeschichte, weiterhin Fakt, aber ohne diese Erfahrungen wäre ich nicht an den Punkt gekommen, an dem ich jetzt bin.

Wir haben uns eine Zeit lang aus den Augen verloren und so sehr ich auch in meinem Gedächtnis krame, ich kann mich nicht erinnern, wann und wie genau wir wieder zusammengefunden haben. Aber seit dem ist er mir enorm wichtig geworden.

Man sagt ja oft „mit meiner/m besten Freund/in kann ich über alles reden“, aber Hand aufs Herz, redet ihr dann wirklich über ALLES? Ich erzähle meiner besten Freundin schon eine Menge, aber ALLES erzähle ich ihr nicht. Bei Big hingegen komme ich schon sehr nahe dran. Manches kitzelt er (im übertragenden Sinn) aus mir raus, beim Rest sträube ich mich noch ein wenig weil ich manchmal unsicher bin, wieviel Ehrlichkeit wir untereinander aushalten.
Spoiler: mehr als ich dachte (das stelle ich zumindest immer wieder fest)
Hm, jetzt drängt sich mir gerade die Frage auf, wieviel „alles“ er mir zumutet. Mehr als früher, soviel ist mal sicher. Hin und wieder denke ich auch „mehr als ich vertragen kann“, was sich aber jedes Mal als falsch herausstellt.

Big bringt mich an meine Grenzen. Er schiebt mich bis an diese Tür, an die ich ein „bis hier her und nicht weiter“-Schild gehängt habe, woraufhin ich in der Regel erstmal einen Schritt zurück mache nur um im nächsten Moment das Schild abzuhängen und durch diese Tür hindurchzuspazieren. Er lässt mich wachsen. Das sollte ich ihm vielleicht auch mal sagen. Komplimente werden ja ohnehin viel zu selten verteilt.
Obwohl wir so verschieden sind (sind wir das wirklich oder kommt es mir nur so vor?) sind wir uns in vielen Dingen überraschend ähnlich und wenn es eine Schublade gibt, in die wir ganz hervorragend hineinpassen, dann ist das unsere eigene.